Gerd Wiesemann
Die Traditionelle Chinesische Medizin ist ein System, das vom Lehrer zum Schüler weiter vermittelt wird und das seit mehr als 4000 Jahren in seinen Grundzügen unverändert geblieben ist ganz im
Gegensatz zu unserem mechanisch/technisch geprägten, naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizinsystem der Moderne. Was heute an den Universitäten gelehrt wird, kann morgen schon alt und überholt
oder gar falsch sein.
Nicht moderne wissenschaftliche Erkenntnisse formen die Grundlage der TCM sie werden aber auch nicht ausgeschlossen sondern ein eigenständiges, in sich geschlossenes System der "Zuordnungen" (yin und
yang, fünf Wandlungsphasen, das Meridiansystem etc.) basierend auf Jahrtausende alten Erfahrungen.
Nicht Quantität (quantifizieren) steht im Vordergrund sondern Qualität, nicht isolierte Organe und Organfunktionen sondern vernetzte Organfunktionsabläufe, nicht Messung sondern Erspüren, nicht
Laborwerte sondern Lebensqualität, nicht bildgebende Verfahren sondern energetisches "Erfühlen".
Der TCM-Arzt kann mit seinen Methoden Störungen im Organfunktions- oder Organkreissystem feststellen und die eigentlichen Ursachen dafür auffinden. Dabei können diese Störungen im westlichen Sinn
(schulmedizinisch definiert) unterschiedliche Krankheiten darstellen oder Krankheitsnamen tragen.
So kann sich eine Störung im Organkreis Leber (die als TCM-Diagnose Energieblockierung der Leber, Leber yang Fülle oder Leber Feuchte-Hitze genannt wird), symptomatisch oder als westliches
Krankheitsbild folgendermaßen darstellen: intolerante(s), verbohrte(s), eingeengte(s) Verhalten oder Sichtweise, Zornausbrüche, Gereiztheit, Eifersucht, Schlafstörungen oder vermehrtes oder
vermindertes Träumen, Nachtwandeln, Kopfschmerzen, Schwindel, Muskelverspannung, -verkrampfungen, Sehstörungen, Tinnitus, Hörsturz, Sinusitis, Nasenbluten, generelle Blutungen, Augen- und
Sehnerventzündungen, Entzündungen im Genitalbereich, Apoplexie, Schmerzen im Hypochondium, Leberentzündungen, Leberzirrhose, Lebertumor, Gehirntumor und vieles mehr.
Es werden also Symptome schon als Krankheiten angesehen, lange bevor sich schulmedizinisch gesehen irgend etwas im Sinne von Krankheit manifestiert hat lange bevor man etwas nachweisen kann.
Aber wie kann in der TCM dann diagnostiziert werden, wie ein Problem erkannt werden? Dazu benutzt der TCM-Arzt seine fünf Sinne, indem er durch die visuelle Diagnose den Patienten betrachtet, durch
Hören der Körpergeräusche und Riechen den Körpergeruch ergründet, durch anamnestische Fragen auch die subjektiven Empfindungen/Probleme des Patienten erfährt und durch das Betasten des Körpers (z.B.
Pulsdiagnose) seine Diagnose abschließt. Diese Informationen werden dann verschiedenen Zuordnungssystemen zugeordnet, die das Grundgerüst der TCM bilden.
Nehmen wir das Beispiel yin und yang. Yin und yang bildet die Basis des chinesischen Denkens und damit die Basis der TCM. Yin und yang, das ungleiche Paar, das dualistische Prinzip beschreibt die
Welt, beschreibt das, was existiert und das, was „nicht existiert“, das Begreifbare ebenso wie das Unbegreifbare. Yin steht für das Materielle, das Substantielle, das, was wir anfassen, also
begreifen können, das, was sichtbar, messbar und erklärbar ist. Yang steht für das Immaterielle, das Substanzlose, das, was wir nicht sehen, nicht fassen und damit auch nicht erklären können, das
Energetische, das „Lichte“, das Unergründbare. Yin und yang sind die gegensätzlichen Kräfte, durch die wir uns erkennen.
Yin und yang sind beide Kinder des „Einen“, der „Einheit“, der „Ganzheit“
Diese Einheit/Ganzheit ist das Ursprüngliche, der grenzenlose Raum (wie es im Buddhismus beschrieben wird), in dem kein Zentrum und keine Peripherie existieren, wo es kein gestern und kein morgen
gibt, ein „Zustand (Nichtzustand)“ ohne Raum und Zeit. Ein Zustand der Leerheit, der aber gleichzeitig nicht ein „Nichts“ ist, Leerheit, die doch alles hervorbringt. Dieser Zustand und auch
„Nichtzustand, mit Worten also nicht zu erklären, gebiert alles: den Kosmos, das Leben, die Existenzen die sich in yin und yang ausdrücken.
Erkenntnisse können wir nur erlangen, indem wir die Gegensätzlichkeit erfahren. Wir erfahren, erleben die Welt erst durch die Auseinandersetzung mit unserem Gegenüber, durch das was außerhalb von uns
ist. Erst durch die Betrachtung von außen oder umgekehrt, erst durch die Existenz der Gegensätze und durch den Wechsel zwischen yin und yang entsteht die Welt, das Universum und alles was darin
existiert und nicht existiert.
Der Tag könnte nicht ohne die Nacht existieren, das Böse nicht ohne das Gute, oben nicht ohne unten, kalt nicht ohne warm, rechts nicht ohne links. Das ist Leben, das macht das Leben aus, es ist ein
Pulsieren zwischen Systole und Diastole.
Das Prinzip von yin und yang ist aber nicht nur dem chinesischen Denken eigen. Alle Kulturen kennen dieses Paar. Auch hier im Westen, im modernen Zeitalter sehen wir diese Symbolik zum Beispiel im
Heroldstab, im Äskulapstab, dem Symbol der Ärzte und Apotheker: Die beiden Schlangen, die einen Stab umwinden, weil sie die Gegensätzlichkeit vereinen und überwinden wollen. Die beiden Schlangen, die
die Einheit verlassen, um wieder in die Einheit zurückzukehren, jedoch um die Erfahrung des Lebens reicher. Die beiden Schlangen, die aus der " "Leerheit", dem Paradies geboren werden, das Leben
überwinden und wieder zurückkehren in die Leerheit, in den Himmel. Das Leben meistern heißt, die Erfahrungen, die Eindrücke, die Ansammlungen, die wir durch den Wechsel von yin und yang erleben
durften, wieder loszulassen. Denn nur „wenn ihr werdet wie die Kinder, könnt ihr ins Himmelreich einkehren“. Erst wenn wir unsere Unschuld wieder finden, „leer“ werden wie am Anfang, dann haben wir
yin und yang überwunden.
Krankheit und Gesundheit sind weitere Begriffe, die man yin und yang zuordnen kann, so wie Aktivität und Ruhe, Kraft und Schwäche energiegeladen, lebendig und kraftvoll auf der einen Seite und
kraftlos, erschöpft und müde auf der anderen Seite.
Gesundheit ist ein harmonischer Zustand zwischen yin und yang, Krankheit ein Ungleichgewicht. In der Traditionellen Chinesischen Medizin versucht man dieses Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, bzw.
bei Krankheit die Harmonie wieder herzustellen. Dies geschieht durch richtige Therapie, in der man z.B. bei Schwäche stärkt und bei Fülle eliminiert, bei Kälte wärmt und bei Hitze kühlt. Daher werden
die einzelnen Therapiemethoden ebenfalls nach yin und yang eingeteilt. Pflanzen, Kräuter und Nahrung werden unterschieden und entsprechend yin und yang klassifiziert. Und nichts ist dabei wirklich
schlecht oder überaus gut. Es ist nur so oder so, wertfrei denn auch scheinbar "Schlechtes" kann heilen und scheinbar überaus "Gutes" kann töten.
Die Fünf-Elemente-Lehre (Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser) ist eine Erweiterung der yin-yang-Theorie, und auch das Prinzip der Dreiteilung und Vierteilung ist nichts als eine Verfeinerung, eine Spezialisierung des dualen Denkens. Diese theoretischen Grundlagen bilden die Säulen der TCM, sowohl für die Akupunktur und Moxibustion, als auch für Tuina/Anmo (physiotherapeutischen Methoden), Kräuterheilkunde und Diätetik.